01. 07. 2024
Verfasst von: Hauke Thiesler, Alexander Dityatev
Demenz: Neuer Wirkstoff gegen das Vergessen
Ein Medikament gegen Demenz wird seit langem ersehnt und scheint so fern. Doch Forschende der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) und ihre Kooperationspartner vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) sind zuversichtlich, einen geeigneten Wirkstoff gefunden zu haben und als Therapeutikum entwickeln zu können. Mit dem Zucker Polysialinsäure in spezifischer Polymergröße soll die Signalübertragung zwischen Nervenzellen im Gehirn verbessert und der kognitive Verfall im Alter verlangsamt werden. Im Verbundprojekt CogniSia untersucht das Forschungsteam die Wirkweise und entwickelt ein Herstellungsverfahren. Nach jetzigem Kenntnisstand ist ein Nasenspray als Endprodukt denkbar.
Therapeutikum mit biokatalytisch erzeugter Polysialinsäure
Progressiver Verlust des Gedächtnisses ist ein Charakteristikum der altersabhängigen Demenz und vieler weiterer Erkrankungen. Forschende haben ein Molekül identifiziert, das bei diesen Prozessen eine wichtige Rolle spielt: die Polysialinsäure (PolySia), ein für die reguläre Entwicklung und Funktion des Nervensystems essenzieller Vielfachzucker. PolySia hält unter anderem ein Gleichgewicht bei Signalweiterleitungs-Prozessen von Nervenzellen im Gehirn aufrecht, das das Gedächtnis mit bedingt. Bei einem Mangel an körpereigener PolySia, wie dies etwa im Gehirn von Alzheimer-Patienten der Fall ist, sind jedoch die Signalweiterleitung und damit auch die kognitiven Fähigkeiten gestört. Die Behandlungsmöglichkeiten dieser Erkrankung, von der allein in Deutschland zirka 1,8 Millionen Personen betroffen sind (Evaluation 2021, dazu 400.000 neue Fälle jährlich), sind stark beschränkt, eine Heilung gibt es bisher nicht.
Kognitiven Verfall im Alter und Demenz verlangsamen
Doch gerade in der PolySia sieht ein Forschungsteam der MHH und des DZNE einen erfolgversprechenden Therapieansatz. „Bedeutsam dabei ist, dass PolySia spezieller Polymergröße in mehreren Tiermodellen für Demenz einen nachgewiesenen positiven Effekt auf die Plastizität der Nervenzellen und den damit verbundenen kognitiven Verfall besitzt“, betont Dr. Hauke Thiesler vom Institut für Klinische Biochemie der MHH. „Dieser positive Effekt war bereits nach einmaliger Verabreichung über die Nase messbar.“ Im Projekt CogniSia verfolgen er und sein Team daher das Ziel, PolySia mit einer Polymergröße (degree of polymerization) DP10 bis DP12 als Therapeutikum in Form eines Anti-Dimentivums zu entwickeln, das den kognitiven Verfall im Alter und somit Demenz verlangsamt.
Anwendung bei weiteren Erkrankungen denkbar
Im Vorfeld des Projektes war der Verlust von PolySia bei Altersdemenz und Schizophrenie bereits bekannt. Nun hat das DZNE-Team den Mechanismus der PolySia-Wirkung entschlüsselt, die auf der Hemmung extrasynaptischer NMDA-Rezeptoren beruht. „Wir haben jetzt erste funktionelle Daten zusammengetragen, die belegen, dass die Zuführung von PolySia DP10 bis DP12 extrasynaptische NMDA-Rezeptoren hemmt und die kognitive Funktion wiederherstellen kann“, erläutert Prof. Dr. Alexander Dityatev von der Forschungsgruppe Molekulare Neuroplastizität des DZNE die Fortschritte. Die Forschenden sind zuversichtlich, dass ein solches Therapeutikum auch bei vielen anderen neurologischen Erkrankungen angewendet werden könnte, zum Beispiel bei Epilepsie oder Schlaganfall. Nun geht es um die zuverlässige Herstellung eines PolySia-basierten Wirkstoffs mittels einer effizienten Produktionsplattform. Die Anwendung ist bereits patentiert.
Nachhaltige Produktionsplattform entwickeln
Der Wirkstoff-Kandidat, der der köpereigenen PolySia in ihrem Aufbau gleicht und somit bioidentisch ist, wird mittels Biokatalyse direkt aus chemisch definierten Ausgangsstoffen erzeugt. „Dadurch ist im Vergleich zu anderen Verfahren im zukünftig angestrebten industriellen Maßstab eine besonders nachhaltige Produktion möglich“, hebt Hauke Thiesler einen Vorteil hervor. Zurzeit untersuchen die Kooperationspartner am DZNE die Wirkmechanismen des Wirkstoff-Kandidaten im molekularen Detail in Mausmodellen und menschlichen Zellmodellen der Alterung und Demenz. Als weiteren großen Vorteil erachtet der Biochemiker, dass der Wirkstoff „in einem Nasenspray wahrscheinlich der effizienteste Weg ist, PolySia mit wenig Begleitstoffen ins Gehirn zu bringen und sich dadurch mögliche Nebenwirkungen und Risiken minimieren lassen“. Der Weg zur angestrebten Anwendung im Menschen ist noch lang und viele weitere Testungen stehen an. Perspektivisch würde das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderte „GO-Bio initial“-Verbundprojekt für eine anschließende Fortführung von zusätzlichen Partnern sehr profitieren.
Hier finden Sie weitere Informationen:
Institut für Klinische Biochemie
Institut für Klinische Biochemie
30625 Hannover
30625 Hannover